Regionale Kooperationen – internationale Begegnungen

„Interessant, schmerzhaft, kompliziert, liebevoll“


Jugendgruppe der Dokumentationsstelle Liebenau zu Gast in Polen

Seit einer Woche sind sie wieder zu Hause, und noch immer ist der tiefe Eindruck, den die Fahrt ins östliche Polen bei den sieben Jugendlichen und zwei Erwachsenen hinterlassen hat, deutlich zu spü- ren. „Wir waren nur ein paar Tage unterwegs, aber wir waren in einer anderen Welt. So viele Erlebnisse, so viele neue Freunde“, fasste es eine junge Teilnehmerin zusammen .

Was war geschehen? Aus Anlass der Gedenkfeier zum 70. Jahrestags des Aufstands im Vernichtungslager Sobibór hatte die „Stiftung polnisch-deutsche Aussöhnung“ aus Warschau eine Einladung an eine Jugenddelegation der Dokumentationsstelle Pulverfabrik ausgesprochen. Seit geraumer Zeit arbeiten beide Organisationen eng zu den Lebenswegen ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter/innen der ehemaligen Pulverfabrik zusammen. Zudem sitzt mit Dariusz Pawlos der Direktor der polnischen Stiftung in der international besetzten Expertenkommission der Dokumentationsstelle. Diese begleitet den Liebenauer Verein seit April dieses Jahres auf dem Weg zur Verwirklichung der Gedenk- und Bildungsstätte. In Kooperation mit Wolfgang Battermann vom Verein „Alte Synagoge Petershagen“ und Ute Müller vom „Haus der Generationen Stolzenau“ gelang es, Jugendliche vom Städtischen Gymnasium Petershagen, dem Herdergymnasium Minden, dem Ratsgymnasium Minden, dem Marion-Dönhoff-Gymnasium Nienburg sowie aus der Jugend-AG der Dokumentationsstelle Pulverfabrik für die Idee zu begeistern, gemeinsam mit jungen Menschen aus Israel, den Niederlanden, Polen, Russland, Weißrussland, Armenien, Serbien und der Ukraine einem weitgehend unbekannten Kapitel des Holocaust nachzugehen.

„Das wird kein Spaß!“ und „In Polen ist es bestimmt kalt!“, so waren die jungen Menschen zwischen 16 und 22 Jahren von Bekannten gewarnt worden, bevor sie sich mit Martin Guse und Ute Müller auf die 20-stündige Fahrt in den Distrikt Lublin an der Grenze Polens zu Weißrussland und der Ukraine machten.

1942 hatten die Nationalsozialisten im ostpolnischen Sobibór eines der drei Todeslager der sogenannten „Aktion Reinhardt“ errichtet, deren Ziel die Vernichtung der Juden in Ost- und Südostpolen war. Allein in Sobibór wurden mindestens 250 000 Menschen ermordet. Am 14. Oktober 1943 fand in diesem Lager ein erfolgreicher Aufstand der jüdischen Häftlinge statt. Von den 600 sogenannten „Arbeitshäftlingen“ konnten ca. 400 mit dem Mut der Verzweiflung fliehen, aber nur 47 überlebten bis zum Kriegsende. Das sind die Fakten. Etwas ganz anderes ist es aber, einen Überlebenden zu treffen und mit ihm persönlich sprechen zu können.

Philip Bialowitz ist einer von ihnen, einer der letzten acht aus Sobibór und einer von dreien, die die Reise zur Gedenkfeier in Polen noch auf sich nehmen konnten. Er verdeutlichte den Jugendlichen seine Mission, die ihn auch im Alter von 85 Jahren noch antreibt: Solange er lebt, die Erinnerung an die Opfer des Lagers wachzuhalten, denn dieses Versprechen gab er am Tag des Aufstandes. Gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Joe, den er als „Überlebenden der zweiten Generation“ bezeichnet, sprach er zu den 120 Jugendlichen über seine schockierenden Erlebnisse als „Arbeitsjude“ im Vernichtungslager – sechs Monate, die ihm vorkamen wie sechs Jahre, doch Philip Bialowitz fühlt sich als Sieger über die Mörder von der SS, nicht als Opfer. Den jungen Menschen von heute nahm er ebenfalls ein Versprechen ab: „Wenn ich nicht mehr bin, dann seid ihr die Zeitzeugen der zweiten und dritten Generation. Ihr müsst in Eurer Heimat erzählen, was ihr hier erfahren habt.“

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Und erfahren haben die Jugendlichen viel. „Aber eben nicht wie in der Schule nur Daten und Zahlen aus Büchern, sondern persönliche Erlebnisse direkt von Betroffenen. Solche Begegnungen bringen einem Geschichte näher als viele Jahre Unterricht“, war die einhellige Meinung. Nicht nur das Treffen mit Philip Bialowitz und den beiden anderen Zeitzeugen, Thomas Blatt und Jules Schelvis, sondern auch das Zusammenleben mit jungen Leuten aus anderen Ländern wurde für alle zum unvergesslichen Erlebnis. Besonders zu der Gruppe aus Israel entstand von Anfang an eine spezielle Beziehung. „Ob die jungen Deutschen mit uns wohl sprechen wollen?“ hatte sich die eine Gruppe gefragt; die andere zeigte sich der als schwierig empfundenen Tatsache bewusst, dass „wir aus dem Land der Täter nach Sobibór kommen.“ Außerhalb des organisierten Programms trafen sich die Deutschen und die Israelis zu spontanen Gesprächsrunden, die geprägt waren von gegenseitigem Interesse, Verständnis, Respekt und großer Sympathie. Und natürlich wurde auch zusammen gefeiert, was sich Außenstehende bei dem ernsthaften Thema vielleicht gar nicht vorstellen können. „Wird in deutschen Schulen über den Holocaust gesprochen?“, „Ist es für euch nicht schlimm, dass ihr zwei oder drei Jahre zur israelischen Armee müsst?“ „Habt Ihr Kontakt oder Freundschaften zu palästinensischen Jugendlichen?“ Solche und ähnliche Fragen wurden offen gestellt und auch diskutiert, ebenso wie die Fragen nach Schuld und Verantwortung.

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Zum Höhepunkt der neuen deutsch-israelischen Freundschaften geriet am Jahrestag des Aufstandes die Teilnahme an der offiziellen Gedenkfeier mit über 1.000 Gästen, „dem spannendsten, interessantesten, schmerzhaftesten, schwierigsten, kompliziertesten und liebevollsten Teil der Reise“, wie es der junge Israeli Nimrod auf Facebook hinterher so treffend beschrieben hat. Als offizielle deutsche Delegation hatte die Gruppe aus unserer Region Kerzen des Gedenkens an das Mahnmal, dem symbolischen Aschehügel für 250.000 Opfer, gestellt – im Anschluss an die Überlebenden und ihre Angehörigen und nach den Politikern und Offiziellen aus Polen, Israel, den Niederlanden und vielen anderen Ländern.

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Deutsche Politiker fehlten leider. Grund dafür waren wohl die Mißverständnisse über die Gestaltung der geplanten neuen Gedenkstätte in Sobibor, die durch die kürzlich erfolgten Äußerungen einer Staatsministerin im Auswärtigen Amt – Deutschland habe schließlich hier keine Opfer zu beklagen gehabt – ganz sicher nicht geringer geworden sind. Allein 15 Opfer des Vernichtungslagers hatten nach Recherchen der deutschen Gruppe verwandtschaftliche Beziehungen zu Stolzenauer Familien, zwei von ihnen waren gebürtige Stolzenauerinnen. „Auch darum waren wir von unserer Partnerorganisation nach Sobibór eingeladen worden, um zu zeigen, dass sich viele junge Deutsche nicht aus der gemeinsamen Verantwortung des Erinnerns verabschieden“, so Martin Guse. „Uns wurde deshalb auch die Gelegenheit eingeräumt, den einzelnen Ländergruppen die Arbeit der Dokumentationsstelle vorzustellen, wobei wir mit den Niederländern, Polen, Weißrussen und unseren langjährigen Freunden aus der Ukraine schon Pläne für weitere Begegnungen entwickelten.“

Das Gefühl und die Chancen der gemeinsamen internationalen Verantwortung waren am Aschehügel von Sobibór geradezu mit Händen greifbar, als Deutsche und Israelis sich spontan umarmten, sich gegenseitig für diese Tage des Wohlwollens, der Offenheit und der Freundschaft dankten, sich versprachen, die Erinnerung wachzuhalten – und sich wieder zu sehen. Dieses Versprechen nehmen alle ebenso ernst wie den Wunsch, den Philip Bialowitz mit einem Lächeln in einem Nebensatz geäußert hat: „Ich erwarte, dass ihr mich nach Deutschland einladet!“ Und das wird bald geschehen: Mit der „Stiftung polnisch-deutsche Aussöhnung“ präsentieren die Dokumentationsstelle und die Partner aus Stolzenau, Petershagen und Minden im kommenden Jahr die von der niederländischen „Stichting Sobibór“, der niederländischen Region Gelderland und dem Museum im polnischen Wlodawa finanzierte und verwirklichte Ausstellung „Aus der Asche von Sobibór“.

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