Internationaler Flüchtlingstag – Das Problem heißt Rassismus

20. Juni 2023

Aus Sicht des Flüchtlingsrat Niedersachsen ist der diesjährige Internationale Flüchtlingstag ein Tag der Trauer: Mit der GEAS-Reform hat die Bundesregierung sich von einer Politik verabschiedet, die die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention zum unhinterfragbaren Maßstab für politische Entscheidungen erklärt. Im Rahmen des „Gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS)“ ist die Unterbringung aller Asylsuchender in haftähnlichen Einrichtungen verpflichtend vorgesehen, auch in Deutschland. Im nächsten Schritt soll dann geprüft werden, welche Geflüchtete man ohne eine inhaltliche Prüfung der Asylgründe in sogenannte „sichere Drittstaaten“ abschieben kann, zu denen auch autokratische Staaten wie Tunesien oder die Türkei oder bitterarme Staaten wie Moldau gehören werden. Geflüchtete aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote unter 20% (zu denen z.B. auch Asylsuchende aus der Türkei gehören werden) sollen auch dann bis zu drei Monaten in „haftähnlichen Einrichtungen“ bleiben, wenn eine Abschiebung in „sichere Drittstaaten“ nicht möglich ist – ihre Asylanträge sollen in Schnellverfahren innerhalb von drei Monaten abgewickelt werden. Die Dublin-Überstellungsfrist soll auf 12 Monate verlängert werden.

Auslöser für diese Maßnahmen ist die angeblich so hohe Zahl der Asylsuchenden: 125.000 Menschen haben in den ersten 5 Monaten des Jahres 2023 einen Asylerstantrag gestellt. Rund 25% der Antragsteller:innen sind allerdings hier geboren, also gar nicht zugezogen. Damit reduziert sich die Zahl der zugezogenen Asylsuchenden in dem Monaten Januar bis Mai 2023 auf rund 100.000 Menschen.

Das Problem ist nicht die Zahl: Händeringend wirbt die deutsche Politik um Arbeitskräfte im Ausland. Ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist auf den Weg gebracht, der Bedarf wird mit 400.000 Arbeitskräften im Jahr beziffert. Für sie stehen die Türen in Deutschland weit offen. Eine Million Geflüchtete aus der Ukraine waren der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2022 willkommen, und es gibt keinen Zweifel, dass die Opfer des russischen Angriffskrieges in Deutschland auch weiterhin willkommen sind. Ihre Aufnahme in Deutschland unterliegt keinen Beschränkungen oder Reglementierungen.

Eine menschenwürdige Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine war und ist eine Herausforderung: In dem Bestreben, die Aufnahme so einfach und pragmatisch wie möglich zu gestalten, hat sich die Politik entschieden, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu helfen, ihr Leben hier in Deutschland neu zu gestalten  und private Hilfe in Anspruch zu nehmen: Ukrainer:innen dürfen sich selbst eine Unterkunft suchen, bei Freund:innen oder Unterstützer:innen unterkommen. Sie erhalten (im Unterschied zu Asylsuchenden) ein sofortiges Aufenthaltsrecht und dürfen sofort arbeiten. Die diskriminierenden Regelungen des Asyl- und des Asylbewerberleistungsgesetzes gelten für sie nicht.

Bei Asylsuchenden geht die Politik den umgekehrten Weg: Statt ihnen den Weg zu ebnen und die Aufnahme zu erleichtern, setzt die deutsche Politik auf weitere Abschottung und Reglementierung: In Tunesien und anderen Nachbarstaaten Europas wirbt die Bundesregierung für Migrationsabkommen, stellt Arbeitsvisa für den deutschen Arbeitsmarkt in Aussicht und verlangt dafür, dass Flüchtlinge daran gehindert werden, nach Europa zu fliehen. Wer es dennoch dorthin schafft, kommt zunächst einmal ins Lager. Begleitend dazu haben die Ministerpräsident:innen der Länder auf ihrer Konferenz im Mai darüber hinaus einen umfangreichen Katalog an weiteren gesetzlichen Verschärfungen gefordert, den die Bundesregierung umsetzen soll.

Das Problem ist also nicht die Zahl. Ziel der deutschen Politik ist es, Menschen für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen und die Handlungs-und Regulationskompetenz des Staates im Bereich der Migrationssteuerung zu vergrößern. Eine humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine erfolgt vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Systemgegensatzes zwischen Ost und West und in nachvollziehbarer Empörung über den russischen Angriffskrieg schrankenlos, aber auch verpackt in die rassistische Begründung, dass ukrainische Geflüchtete uns „kulturell näher“ seien, in jedem Fall aber in der Erwartung, dass sie  und aufgrund ihrer Qualifikationen eine Bereicherung für den deutschen Arbeitsmarkt darstellen würden.  Hinten runter fallen die Verfolgten aus anderen Teilen der Welt. Das Mitleid ist aufgebraucht, für sie ist kein Platz mehr. Das Problem heißt Rassismus.

Text: Kai Weber

Geschäftsführer Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.

Filmvorführung in Nienburg – Fotoausstellung im Haus der Generationen

Als 2015 mehr als 800.000 Geflüchtete nach Deutschland kamen, waren sie die Angstgegner aller Integrationsskeptiker:innen: Junge Männer, die allein aus Syrien oder Afghanistan, aus Somalia, Eritrea oder dem Irak nach Deutschland kamen. Sie wurden zur Projektionsfläche für ernsthafte Sorgen, sowie für plumpen Rassismus.

Zugleich wurde viel häufiger über sie gesprochen als mit ihnen – und da setzt der Film „wir sind jetzt hier!“ an. Sieben junge Männer erzählen in die Kamera vom Ankommen in Deutschland.

Die Filmvorführung findet statt am 14.06.2023, um 17.30 Uhr im Forum der VHS, Rühmkorffstr. 12, in Nienburg. Anschließend stehen die Filmemacher und ein Protagonist für eine Podiumsdiskussion zur Verfügung.

Parallel wurde die Fotoausstellung „Manchmal male ich ein Haus für uns“ mit Bildern von Kindern aus den Flüchtlingscamp Moria der UNO Flüchtlingshilfe bis zum 30.5. im Haus der Generationen gezeigt und ist noch bis zum 9.06.23 im Rathaus Nienburg zu sehen.

Geschichten vom Ankommen in Deutschland

Mitarbeiterinnen im „Haus der Generationen Stolzenau“ freuen sich sehr über zwei erfolgreiche „Fluchtgeschichten“

Foto HamS

„Ich möchte gerne auf Ihr Angebot zurückkommen und Ihnen von zwei erfolgreichen Fluchtgeschichten berichten.“ Der Anruf von Ada Bobrova kam ganz unverhofft. Ursprünglich bei frau+wirtschaft in Nienburg für das Projekt „Förderung von Migrantinnen“ eingestellt, arbeitet die gebürtige Witebskerin, die vor rund zehn Jahren als Diplom-Juristin nach Nienburg kam, mittlerweile für das „Haus der Generationen“ in Stolzenau. Weil Ada Bobrovas Studium in Deutschland nicht anerkannt wurde, studiert sie jetzt in Hannover noch einmal. Jura. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit.

In Deutschland nicht anerkannt wurde auch das Studium von Umiiat Datadzhieva. Die heute 29-Jährige war in Russland als Lehrerin für Rechtswissenschaften tätig. Im November in Stolzenau angekommen, absolvierte die Russin zunächst einen A2- und anschließend einen B1-Kurs. Längst spricht die Mutter von vier Kindern nicht nur tschetschenisch und russisch, sondern auch deutsch.

„Und das, obwohl Flüchtlinge aus Russland eigentlich gar keinen Anspruch auf Sprachkurse haben. Die Plätze bleiben eigentlich Geflüchteten aus Syrien, Iran, Irak, Eritrea und Somalia vorbehalten. Doch der Landkreis ermöglicht auch Frauen wie Umiiat Datadzhieva die Teilnahme an dem für das berufliche Fortkommen wichtigen B1-Kurs“, ergänzt Ute Müller, seit 2007 Leiterin des Mehrgenerationenhauses an der Oldemeyer Straße.

Ab August besucht Umiiat Datadzhieva die Sozialpädagogikschule in Holtorf. Sie möchte Erzieherin werden. Um den täglichen Weg mit dem Bus von Stolzenau nach Holtorf und zurück macht sie sich gar keine Gedanken. „Das wird schon gehen. Ich weiß bereits, dass ich in Nienburg umsteigen muss“, so die 29-Jährige.

„Umiiat hat einen starken Willen“, betont Ada Bobrova. Und ergänzt: „Ihr Glück ist, dass sie Originalzeugnisse und ihren Originalpass dabei hatte.“ Das ist bei weitem nicht immer so. „Viele Geflüchtete haben bewusst nur Kopien mitgenommen, weil sie nicht riskieren wollten, die Originalunterlagen auf der Flucht zu verlieren. Für sie ist die Lage regelrecht desaströs. In Deutschland geht ohne Papiere gar nichts“, so Ute Müller.

Originalpapiere aus einer zerstörten Stadt

„Aber versuchen Sie einmal, wie im Falle einer jungen Irakerin, die in Mossul ihr Abitur gemacht und jetzt ebenfalls Erzieherin werden möchte, in einer Stadt, in der alles kaputt ist, Papiere anzufordern“, so Ute Müller weiter.

Das Glück, seine Original-Unterlagen dabei zu haben, hat auch Omar Hamza. Der 48-Jährige hat im Irak als Agraringenieur gearbeitet. Sein Studium wurde in Deutschland anerkannt. Der 48-Jährige lebt mit seiner Familie seit Juni 2016 in Stolzenau. Der Iraker hofft sehr, dass er die Prüfung am Ende des B2-Kurses besteht und er anschließend eine gute Arbeit findet. Seine Frau absolviert gerade den B1-Kurs.

Für diejenigen, die die lateinischen Buchstaben bereits beherrschen – beispielsweise, weil sie in der Schule oder im Studium englisch hatten – dauern die Kurse neun Monate. Zwei Drittel der Zeit wird damit verbracht, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu erlernen, im dritten Drittel geht es auch um Politik und Gesellschaft. „Das ist wichtig“, betont Ute Müller, „die Geflüchteten wollen und müssen ja wissen, in was für einem Land sie leben.“

Umiiat Datadzhieva und Omar Hamza und ihre Familien fühlen sich sehr wohl in Stolzenau. Sie haben eine schöne Wohnung und nette Nachbarn. Auch mit den Kindern läuft alles gut. Die Lehrerin für Rechtswissenschaften mit ihren Kindern nachmittags Lese- und Gedächtnisübungen. Der älteste Sohn von Omar Hanza – gelernter Automechaniker – hat gerade seinen Führerschein bestanden.
Ins Haus der Generationen kommen beide Familien gerne. Wegen der netten Atmosphäre, aber auch, wenn sie Hilfe haben möchten.

Allerdings sind die Familien Datadzhieva und Hamza bei weitem nicht die einzigen, die die Hilfe von Ute Müller und ihren Kolleginnen Ada Bobrova, Ebru Öztürk und Sadiye Actas benötigen.

Eltern sitzen in Flüchtlingslager in Griechenland fest

Sehr zu schaffen macht den meisten, dass ein Familiennachzug nahezu unmöglich ist. Selbst im Fall der beiden drei und vier Jahre alten irakischen Kinder, die in der Samtgemeinde Mittelweser bei ihrer Oma und ihrem Onkel leben. In ihrem Fall ist längst geklärt, dass die Eltern, die in Griechenland in einer Flüchtlingsunterkunft leben, zu ihren Kindern dürfen.

„Doch sie kommen und kommen nicht. Die Kinder gehen jeden Abend mit der Hoffnung ins Bett, dass die Eltern am nächsten Tag vor der Tür stehen. Doch bisher vergebens“, so Ute Müller und Ebru Öztürk. Nachfragen laufen ins Leere. Die deutschen Behörden sähen die Schuld bei den griechischen und andersherum. „Dabei haben die Kinder ein Recht auf Familie. Sie stehen in Deutschland unter dem Schutz des Staates“, gibt Ebru Öztürk zu bedenken.

Oder die Mädchen, die mit ihrem Brüdern und ihrem Vater in der Samtgemeinde Mittelweser untergebracht wurden. Da ihnen nur subsidiärer Schutz zugesprochen sei, sei es für die nahezu unmöglich, die Mutter, die in der Türkei festsitzt, jemals wiederzusehen.

„Wir erleben immer häufiger, dass sich Kinder, bei denen zunächst alles positiv läuft, mit der Zeit verändern. Vermutlich, weil bis dahin verdrängte Fluchterfahrungen wieder aufbrechen“, so Ute Müller.

Ebru Öztürk würde sich im Interesse von Geflüchteten wie Einheimischen sehr wünschen, dass es – nicht nur im Falle zwei behinderter Kinder – einen Wegweiser durch den äußerst komplexen Dschungel sich ständig ändernder Vorschriften gebe.
Freuen würde man sich in Stolzenau außerdem, wenn die Auskünfte von Integrationskoordinatorin Ellen Mühlenhof-Rabe vom Jobcenter in Nienburg auch im Jobcenter in Stolzenau Gültigkeit hätten.

27.10., 19:00 Uhr: Szenische Lesung: „Sonst wären wir hier zu Hause“

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„Sonst wären wir hier zu Hause“

Szenische Lesung zu Flüchtlingen seit der NS-Zeit

Donnerstag, 27.10.16 um 19.00 Uhr im Nienburger Kulturwerk

Sechs Fluchtgeschichten bringen Jugendliche in einer szenischen Lesung des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum auf die Bühne. Allesamt sind es Schicksale aus der Region von Menschen, zu denen die Jugendlichen Kontakt haben – angefangen bei der jüdischen Familie Hammerschlag, die 1938 aus Rehburg floh, bis hin zu dem Jungen Aman aus Eritrea, der nach zweijähriger Flucht in 2015 in den Landkreis Nienburg kam.

Inszenieren Fluchtgeschichten von der NS-Zeit bis heute:

Jugendliche beim Workshop des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum

„Sonst wären wir hier zu Hause“ – vor rund zehn Jahren stand Jose Hammerschlag auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg, sah von dem Grabstein seines Urgroßvaters zu seinen Begleitern hoch und sagte diesen Satz. Zu Hause wäre er, der nun mit seiner Familie in Israel lebt, in diesem Rehburg, wenn die Hatz auf Juden in Deutschland nach der Machtergreifung durch die Nazis nicht gewesen wäre.

„Sonst wären wir hier zu Hause“ ist auch der Titel der Lesung. Geflohen oder vertrieben von zu Hause sind all jene, mit denen die Jugendlichen und weitere Mitglieder des Arbeitskreises gesprochen haben. Geflohen sind sie nicht nur aus dem Deutschland der Nazi-Zeit, vertrieben, geflüchtet aus vielen Regionen der Welt, heute wie gestern. Angekommen sind sie in Argentinien, Großbritannien und Deutschland. Manche Parallelen zeigen sich in den Schicksalen, jedes Schicksal ist dennoch einzigartig und berührend. Weshalb diese Menschen geflohen sind, was sie auf ihrer Flucht erlebten und wie sie angekommen und aufgenommen wurden – all das haben sie erzählt.

Neun Jugendliche haben gemeinsam mit der Theaterpädagogin Christine Gleiss und der Schulpastorin Susanne von Stemm das Drehbuch entwickelt, die Lesung inszeniert und einige von ihnen haben einen eigenen Song zu den Fluchtgeschichten geschrieben.

Gruppen, die zu der abendlichen Lesung kommen möchten, werden gebeten, sich im Kulturwerk unter Tel. 05021/922580 anzumelden. Der Eintritt ist frei.